VersaCommerce Team
Der Europäische Gerichtshof hat die Preisbindung für Arzneimittel teilweise gekippt. Schon schielen die ersten Protagonisten auf die Buchpreisbindung. Was kommt jetzt: mehr Marktwirtschaft oder lobbygesteuerte Bunkermentalität? Und was bedeutet das für den Online-Handel
In einem viel beachteten Urteil hat der Europäische Gerichtshof (EuGH)die Preisbindung für verschreibungspflichtige Arzneimittel in Deutschland teilweise für unzulässig erklärt. Für ausländische Internet-Apotheken, die prominenteste unter diesen ist Doc Morris, sei die Preisbindung eben nicht bindend, so der Richterspruch. Die Preisbindung für rezeptpflichtige Medikamente schränke den grenzüberschreitenden freien Warenverkehr ein und verstoße damit gegen EU-Recht, urteilten die Luxemburger Richter.
Was sich zunächst nicht sehr spektakulär anhört, könnte weit reichende Folgen für den Medikamentenhandel in Apotheken und im E-Commerce sowie auch für andere Branchen haben. Denn schon kommt die Frage auf, welche Konsequenzen das aktuelle Urteil für die Buchpreisbindung haben könnte. Und wir reden hier nicht von Peanuts. Im Jahr 2015 betrug der Apothekenumsatz mit rezeptpflichtigen Arzneimitteln in Deutschland 43,8 Milliarden Euro. Die Buchbranche setzte im gleichen Jahr hierzulande 9,19 Milliarden Euro um, 1,6 Milliarden Euro davon im Online-Buchhandel. Der Buchhandel ist ja quasi eine der Keimzellen des E-Commerce in Deutschland. Fragte man vor gut zehn Jahren nach Amazon, erhielt man häufig die Antwort: "Ach ja, das ist dieser amerikanische Buchhändler im Internet." Wir wollen daher einmal schauen, was nach dem EuGH-Urteil auf den (Online-) Handel in den beiden besagten Branchen und darüber hinaus zukommen könnte.
Die Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände reagierte erwartungsgemäß mit Schaum vor dem Mund auf das Urteil des EuGH und fordert sicherheitshalber gleich einmal ein Totalverbot für den Online-Handel mit Medikamenten. "Es kann nicht sein, dass ungezügelte Marktkräfte über den Verbraucherschutz im Gesundheitswesen triumphieren. Jetzt ist die deutsche Politik gefordert! Der Gesetzgeber muss schon aus eigenem Interesse seinen Handlungsspielraum wiederherstellen. Eine denkbare Lösung wäre ein Verbot des Versandhandels mit rezeptpflichtigen Arzneimitteln in Deutschland. Europarechtlich wäre das zulässig", heißt es in einer Pressemitteilung.
Dazu fällt mir nur eine alte, aber gute Analogie ein: Wer einen Sumpf trocken legen will, sollte nicht die Frösche fragen!
Es erscheint mir mehr als offensichtlich, dass hier unter dem Deckmäntelchen des Verbraucherschutzes und der medizinischen Daseinsfürsorge die planwirtschaftlich anmutende Sicherung lukrativer Erbhöfe der Apothekerschaft die Hauptmotivation ist. Der handelsübliche Begriff für den Wettbewerb um Kunden - sei es on- oder offline - über Service, Angebot und natürlich auch den Preis lautet Marktwirtschaft. Diese ist eigentlich einer der Grundpfeiler unserer Republik. Eigentlich ... aber was sagt die Politik?
Die ersten Reaktionen der Politik sind aus meiner Sicht furchterregend. Das Urteil habe das Potential, die Arzneimittelversorgung in Deutschland völlig neu zu ordnen und viele Apotheken in ihrer Existenz gefährden, sagte der für Arzneimittel zuständige Gesundheitspolitiker der Unions-Fraktion, Michael Hennrich (CDU) gegenüber FAZ.NET: „Der Grundfehler liegt in dem unter Ulla Schmidt erfolgten Aufhebung des Versandhandelsverbot; obwohl der EuGH dieses Verbot ja ausdrücklich zugelassen hat.“ Er sagte weiter: „Man muss auch darüber nachdenken, diesen Fehler zu korrigieren.“ Es komme jetzt zum Schwur, ob es die Parteien ernst damit meinen, die Versorgung durch die Apotheke vor Ort sicherzustellen.
Dazu fällt mir, ehrlich gesagt, kaum noch etwas ein! Ludwig Erhard hat sich wahrscheinlich prompt im Grab umgedreht. Das riecht (oder sollte ich sagen stinkt?) nach lobbygesteuerter Bunkermentalität statt einem Bekenntnis zur Marktwirtschaft. Hier soll also handstreichartig ein Berufsverbot für Online-Händler ausgesprochen werden, statt einem wichtigen Marktsegment und dessen Kunden die Möglichkeit zu eröffnen, vom Wettbewerb zu profitieren?
Die deutlich sinnvollere Reaktion auf das EuGH-Urteil wäre vielmehr die komplette Aufhebung der Preisbindung für rezeptpflichtige Medikamente in stationären wie webbasierten Apotheken. Serviceoffensiven der konkurrierenden Anbieter, größere Kundennähe und sinkende Preise wären meines Erachtens mehr als wahrscheinliche Resultate dieser Entscheidung.
Mit dieser Prognose stehe ich übrigens nicht so ganz alleine da. EU-Generalanwalt Maciej Szpunar sagte schon im Juni im Vorgriff auf die Entscheidung des Gerichtshofes, es könne "ohne eine Preisbindung zu niedrigeren Preisen kommen, was dem System der sozialen Sicherung zugute kommen könnte.“ Selten war ich so einer Meinung mit einem EU-Repräsentanten wie in diesem Fall.
Im Windschatten der EuGH-Entscheidung zu rezeptpflichtigen Medikamenten stellt sich natürlich unmittelbar die Frage, wie es um die Zukunft der Buchpreisbindung bestellt ist. Bundesjustizminister Heiko Maas beeilte sich zwar zu verkünden, an der Buchpreisbindung festhalten zu wollen. Doch ist es nach dem Richterspruch zu den Arzneimitteln fraglich, ob diese politische Willensbekundung der Rechtsprechung standhalten kann. Der Vorsitzende der Monopolkommission, Achim Wambach, sagte der Rheinischen Post: "Die Entscheidung des EuGH deutet darauf hin, dass die gesetzliche Buchpreisbindung nicht mehr ohne Weiteres zu halten sein dürfte." Was aber würde ein Fall der Buchpreisbindung für das Kräfteverhältnis zwischen stationärem und interaktivem Buchhandel bedeuten?
In den vergangenen Jahren hat sich die Gewichtung der Marktanteile von stationärem und interaktivem Buchhandel stabilisiert, auch wenn der Verkauf von Büchern über das Internet immer noch jeweils leicht zulegen konnte. Die absoluten Zahlen sind mit Vorsicht zu genießen, da mittlerweile natürlich auch viele der einstmals klassischen Offline-Buchläden längst auch den Vertriebskanal Internet nutzen. Dieses Einpendeln auf ein mehr oder weniger stabiles Kräfteverhältnis zwischen on- und offline-Buchhandel hat natürlich einen wesentlichen Grund: Online-Händler können in diesem Marktsegment ihren stationären Wettbewerb bislang preislich nicht unterbieten, so wie sie es in vielen anderen Branchen tun können. Die Entscheidungsparameter der Kunden beim Bücherkauf sind (noch) anders gelagert. Ist es mir lieber, mir die Bücher bequem und meist versandkostenfrei von einem Online-Händler zuschicken zu lassen? Oder bevorzuge ich das haptische Einkaufserlebnis im Buchladen, womit ich auch gleichzeitig den örtlichen Buchhändler unterstütze? Ein weiteres Kriterium ist natürlich die Auswahl. Da sind die Webhändler natürlich jetzt schon unschlagbar.
Finanzstarke Marktriesen wie Amazon könnten eine Freigabe der Buchpreise natürlich zu einer Preisoffensive nutzen, um auf diesem Wege zusätzliche Marktanteile zu gewinnen und kleinere Händler innerhalb wie außerhalb des Internets auf diese Weise mittelfristig aus dem Markt verdrängen. Ein solches Vorgehen von Marktführern ist alles andere als unüblich und in der Wirtschaftsgeschichte hundertfach belegt. Dabei verzichten die Großen für eine gewisse Zeit ganz oder teilweise auf ihre Rendite, die sich sich später über die so gewonnenen Marktanteile zurückholen. Die Grenze hierbei ist freilich der unlautere Wettbewerb in Form von dauerhaften Dumpingpreisen, der aber traditionell schwer und nur in langwierigen Verfahren nachweisbar ist. Zeit, die kleinere Marktteilnehmer meist nicht haben.
Natürlich habe ich bislang über das eine oder andere noch nicht gelegte Ei gegackert. Wir wissen nicht, was der Gesetzgeber hinsichtlich des Verkaufs rezeptpflichtiger Medikamente beschließen wird. Eben so wenig steht fest, ob die Buchpreisbindung fallen wird, auch wenn ich das für wahrscheinlich halte. Doch es geht hier um nicht weniger als um Grundsatzfragen des Handels insgesamt und damit natürlich auch des E-Commerce. Können und sollen wir ganze Branchen vom marktwirtschaftlichen Wettbewerb ausnehmen? Soll und darf dem Online-Handel der Zugang zu ganzen Marktbereichen verwehrt werden? Können wir es uns in einer kriselnden Europäischen Union leisten, für bestimmte Marktsegmente Mauern in Form von Handelsbeschränkungen zu errichten? Wofür plädiert ihr? Ich bin mehr als gespannt auf eure Meinungen.