VersaCommerce Team
In der Realität ist es nicht immer so einfach den Einzelhandel mit der digitalen Einkaufswelt von Online-Shops und Online-Marktplätzen zu verbinden, wie es sich in Artikeln und How To´s lesen lässt. Andreas Haderlein steckt unter anderem hinter erflogreichen Projekten wie der Online City Wuppertal
Als Wirtschaftspublizist und Innovationsberater beschäftige ich mich schon seit langem mit dem digitalen Wandel. Dazu habe ich auch in meiner gut zehnjährigen Zeit als Trend- und Zukunftsforscher am Zukunftsinstitut eine Reihe von Studien geschrieben. Seit 2012 fokussiere ich verstärkt auf die Chancen der Digitalisierung für den Handel. In meinem letzten Buch „Die digitale Zukunft des stationären Handels“ standen unternehmensindividuelle Multi- bzw. Omni-Channel-Strategien im Vordergrund. In meinem neuen Buch „Local Commerce“, das noch in diesem Jahr erscheinen wird, geht es um kollektive Strategien von Werbegemeinschaften bzw. Einzelhandelsstandorten und Städten. Ich bringe darin meine Erfahrungen als Impulsgeber, Projektpartner und „Kümmerer“ der Online City Wuppertal zu Papier, die als neuartiger Ansatz der Einzelhandelsförderung gilt. Von Hause aus bin ich übrigens studierter Kulturanthropologe, genauer gesagt Medienanthropologe, der sich im Weitesten damit auseinander setzt, was Menschen mit Medien machen und Medien mit Menschen.
© EHI/Hauser
Zunächst einmal ist es eine griffige Wortschöpfung, die – als Gleichung ausgedrückt – beide Welten vereint: Stationärer Handel + E-Commerce = Local Commerce. Im Genaueren verstehe ich darunter den Versuch der Etablierung digitalen Dachmarketings für Einzelhandelsstandorte unter besonderer Berücksichtigung des veränderten Kaufverhaltens. Lokale Online-Marktplätze sind dabei die technisch-konzeptionelle Grundlage.
Local Commerce ist aber weit mehr als die Realisierung eines Multi-Vendor Online-Shops. Diese sprießen ja seit der medialen Aufmerksamkeit um die Online City Wuppertal wie Pilze aus dem Boden. Im Kern ist der Local-Commerce-Ansatz Veränderungsmanagement einer in weiten Teilen relativ veränderungsresistenten – mal mehr mal weniger „satten“, zuweilen trotzigen – Klientel, dem lokalen (inhabergeführten) Einzelhandel.
Weil ich glaube, dass die Digitalisierung aus dem stationären Handel eine bessere Version macht von dem, was er immer war. Das gilt in puncto Kundenansprache, Flächenkonzept, Service-Level und erst recht, was die Beratungskompetenz im Verkauf anbelangt. Dabei geht es mir nicht um den „banalen“ Betrieb eines Online-Shops oder um die simpel nachvollziehbare Tatsache, dass einem im digital getriebenen Zeitalter des Einzelhandels ohne elektronische Warenwirtschaft und Abbildung der Warenverfügbarkeit etwas ganz Entscheidendes fehlt. Es geht mir um ein tieferes Verständnis dessen, was Handel heute überhaupt ist. Wird der Handel in Zukunft überhaupt noch mit Waren handeln oder ist er nicht längst auf dem Weg zu einem Lebenslagen-Dienstleister?
Der stationäre Handel konnte sich sehr lange Zeit auf seinem de facto Vertriebsmonopol ausruhen. Jetzt hat er die Vertriebshoheit verloren und Kunden müssen nicht mehr in Läden gehen, um Einkäufe zu erledigen. Das verändert im Kern auch unsere Städte, denn der 0815-Verkauf wird nicht mehr funktionieren. Aber gerade diese Herausforderung macht das Thema ja so spannend. Es ist der wohl größte Umbruch einer Branche seit Erfindung der Registrierkasse und wir haben es in der Hand ein Stück weit diesen Umbruch mitzugestalten. Die brüchig gewordene Liaison zwischen Einzelhandel und Innenstadt spürt die Immobilienbranche gerade sehr deutlich, sie wirft althergebrachte Stadtentwicklungsparadigmen über den Haufen und revolutioniert Versorgungskonzepte. City-Manager erkennen auf einmal, dass es auch einen quasi-öffentlichen online-lokalen Raum gibt, den man bespielen muss. Und auf der anderen Seite ist das Internet heute immer 1a-Bestlage, wenn man mit den richtigen Online-Sichtbarkeits-Werkzeugen arbeitet und das nötige Budget dafür hat. Am Ende aber werden auch im 21. Jahrhundert Innenstädte identitätsstiftende Orte sein, die Menschen anziehen – allerdings als analog-digitale Erlebnisräume. Die erste Geige im Orchester Innenstadt spielt dann vermutlich nicht mehr der klassische Einzelhandel à la Ware-rein-Ware-raus.
Zunächst einmal muss man verstehen, dass man stationären, insbesondere inhabergeführten Geschäften keine Online-Dienste „verkaufen“ kann. Man muss sie von den Chancen des Internets für den Handel auf der Fläche überzeugen, ja, begeistern können. Das heißt, als Moderator von Change-Prozessen – oder nennen wir es lieber Hilfe-zur-Selbsthilfe – gilt es, das rote Tuch Internet sanft aus dem Gesichtsfeld zu REISSEN, um es spitzfindig auszudrücken. Ein durchdachtes Schulungs- bzw. Coachingkonzept zählt genauso dazu, wie die Sprache der Händler zu sprechen und auch mal radikal Verantwortung zu übernehmen für bestimmte Entscheidungen – sei es bei der Wahl des Infrastrukturgebers eines Online-Marktplatzes oder bei Maßnahmen, die eben nicht dem Mainstream folgen. Online-Handel ohne „Wir“ wird künftig schwierig werden. In Wuppertal hat sich mittlerweile aus der Interessengemeinschaft 2.0, wie ich die Teilnehmer des Pilotprojektes immer bezeichnet habe, ein eigener Verein, getragen von Händlern der Stadt gegründet. Er führt den Ansatz des Pilotprojektes fort. Aber glauben Sie mir, wir haben auf dem Weg zu diesem wichtigen Projektmeilenstein, der ja die Nachhaltigkeit des Wuppertaler Modells unterstreicht, viele Stunden damit verbracht zu diskutieren, zu streiten und auch mal ein Bier zusammen zu trinken.
Die Online City Wuppertal gilt als Mutter aller lokalen Online-Marktplätze. Aber nicht weil der Online-Marktplatz an sich so toll wäre – hier musste auch der Infrastrukturgeber atalanda richtig viel Lehrgeld bezahlen und befindet sich noch immer in der Optimierungsphase –, sondern weil das gesamte Pilotprojekt, das zu 50 Prozent aus Bundesmitteln der Nationalen Stadtentwicklungspolitik und zu 50 Prozent über lokale Gelder getragen war, als Multichannel-Fitness-Programm angelegt war. Dieses neuartige Einzelhandelsförderungsmodell, hinter dem im Übrigen zentral auch ein Flächenkonzept zur Revitalisierung von Leerflächen und ein city-logistisches Grundkonzept mit Drive-in-Schalter und taggleicher Lieferung stand, hat gezeigt, das die beiden Welten Online und Offline künftig auf allen Ebenen radikal zusammengedacht werden müssen.
Es führt an dieser Stelle zu weit, in die Details der Unterschiede zwischen den verschiedenen Online-Sichtbarkeitsmodellen und Marktplatzkonzepten zu gehen. Selbst die atalanda-Städte haben alle unterschiedliche Voraussetzungen – in konzeptioneller, finanzieller oder personeller Hinsicht. Auf LocalCommerce.info liste ich im Moment ca. 80 digitale City-Initiativen. Einen Großteil davon kommentiere ich auch. Sie reichen von neuartigen Nachbarschaftsplattformen wie das Wiener imGrätzl.at über verlagsbetriebene Online-Schaufenster für den lokalen Handel bis hin zu vertriebsorientierten Marktplätzen mit Shopfunktionalität und Lieferkonzept wie Lokaso oder eben die Online City Wuppertal. Letztere steht für eine geglückte Erzeugung von RoPo-Effekten und online-induzierte stationäre Verkäufe. Das Modell „Mönchengladbach bei eBay“ wiederum, das weniger den online-lokalen Raum erschließt als stationären Händlern globale Online-Reichweite mit entsprechenden Umsätzen zuzuführen, ist der konzeptionelle Gegenpol. Städte bzw. Händlergemeinschaften müssen also vor allem darüber entscheiden, wie viel und an wen sie künftig Hoheit an digitalen Infrastrukturen abgeben werden. Das betrifft WLAN-Netze, lokale Online-Marktplätze oder Beacon-Netzwerke gleichermaßen.
Der entscheidende Vorteil für den einzelnen Händler ist schlicht und ergreifend, dass er zunächst keinen eigenen Online-Shop braucht, um auch vertrieblich vom Internet zu profitieren. Das spart Geld, Nerven und Zeit. Es hält das Risiko beim Einstieg in den Multichannel-Handel also gering. Der zweite wichtige Vorteil ist, dass Händler einer Stadt auf digitaler Ebene kooperieren und so imstande sind, auch zugkräftige lokale Online-Marken zu kreieren. Diese gewinnen zwar nicht unbedingt Amazon-Prime-Mitglieder für den stationären Handel zurück, jedoch viele Menschen, die lokal ja kaufen würden, wenn sie nur wüssten, dass bestimmte Produkte auch in der Stadt erhältlich sind. Der Preis ist dabei nicht der alles entscheidende Faktor, es ist die Bequemlichkeit. Die Moral aber sicherlich auch. Denn auch Kunden müssen letztlich ein Stück weit erkennen, dass sie mit ihrem Konsumverhalten mitunter auf dem Ast sitzen, an dem sie sägen. Der nette Buchhändler um die Ecke ist schlicht und ergreifend weg, wenn man nicht bei ihm kauft oder bestellt. Allerdings muss auch er zuerst technisch und das Online-Marketing betreffend exzellenter werden, bevor er die moralische Keule „Kauft lokal“ schwingt.
Ein schlagkräftiges Projektteam. Ein Infrastrukturgeber, der weiß, was die Kombination von Offline- und Online-Handel wirklich ausmacht. Eine Anschubfinanzierung. Ein idealerweise in privat-öffentlicher Kooperation finanzierter Kümmerer 2.0, der sich nicht um die Weihnachtsbeleuchtung oder den nächsten Mittelaltermarkt der Stadt zu sorgen hat, sondern um digitales Dachmarketing für den Einzelhandelsstandort nebst Management und Moderation eines lokalen Online-Marktplatzes. Und sehr viel Fingerspitzengefühl für organisches Wachstum der Initiative. Mit einem Fingerschnipp wird kein lokaler Online-Marktplatz aus der Taufe gehoben.