Um es gleich vorweg zu nehmen: Ich denke der Brick & Mortar Retail ist besonders anfällig dafür, stupide Investitionsentscheide im digitalen Bereich zu fällen. Beide der erwähnten Firmen hat ein grosses (+1Bn) Retail-Geschäft und massenweise Stores (500+). Ein solcher Store kostet in der Investition, je nach Grösse und Ausstattung zwischen 1 und 8 Millionen Euro. Der Umsatz, den man mit einer Filiale erreichen kann, liegt bei rund 3 bis 8 Millionen Euro
Die Filiale für 100k EUR
Warum also erhalte ich genau von solchen Retailern überdurchschnittlich oft die Business-Anforderung, dass eine E-Commerce Plattform nur zwischen 100k und 600k EUR kosten darf? Und warum wird im selben Dokument erwähnt, dass man plane, dass der „Online-Kanal“ in drei Jahren 50 Millionen Umsatz machen werde? Weiter erklärt mir dann im Vendor-Briefing ein Cxx, dass sie gerade an der Digital Transformation dran wären und E-Commerce von grösster Wichtigkeit sei. Aha.
In solchen Firmen würde wohl jeder umgehend gefeuert, wenn er eine neue Filiale mit nur 300k Investition jedoch einem erwarteten Umsatz von 50 Mio planen oder vorschlagen würde. Im digitalen Bereich darf selbst auf C-Level solcher Schwachsinn gefordert werden. Warum denn?
„Kein Plan“ und „nicht daran glauben“ sind verheiratet
Ich denke, dass es meist eine Mischung aus kein Plan von digitalen Geschäftsmodellen haben und einem mehr oder minder heimlichen nicht an die digitale Transformation glauben ist. Meist eben eine Mischung aus beidem, weil das eine bedingt ja gewissermassen das andere. Das hindert diese meist hochrangingen Management-Vertreter jedoch nicht gefühlt pausenlos über den „Digital Shift“ zu sprechen. Wäre digitale Kompetenz vorhanden (für die man - by the way - überhaupt kein Digital Native sein muss, sondern einfach nur aufgeweckter, lernbegieriger und risikofreudiger Intrapreneur), würde jemand in diesen GL-Gremien erkennen, dass in das was einem wichtig ist, auch investiert werden muss. Und aufstehen und „Stopp“ sagen.
Die Statisten
Dass solche Vorhaben üblicherweise Quatsch sind, ist im Unternehmen meist auch bekannt. In der Regel gibt es immer irgendwo ein Mitarbeiter der den Fehler erkennt, das gegenüber uns Vendors auch äussert, aber innerlich resigniert, da seine Vorgesetzten sowieso nicht auf ihn hören. Gerade was Investitionen angeht. Die sind ja immer „Chefsache“.
Der totgeweihte Pilot
Besonders tragisch wird es, wenn dann die kleine Investition mit einer Pilotphase gerechtfertigt wird. À la: Wir machen jetzt diesen kleinen (lese: superbilligen) Shop und messen daran ob dieses E-Commerce-Dingens für uns funktioniert. Funktioniert es, intensivieren wir unsere Investitionen, wenn nicht, suchen wir strategische Alternativen (lese: zum Beispiel Neugestaltung des Print-Katalogs). Das ist der direkte Weg ins Verderben. Denn: Da die Investition so klein ist, dass eben nicht einmal ein Minimal Viable Product (aus Sicht des Onlinekunden) erstellt werden kann (oder eines mit gravierendsten Qualitätsmängeln), wird das mit dem Online-Business garantiert nichts.
Das heisst aber natürlich nicht, dass die Kunden von Retailer xy nicht gerne online kaufen würden, sondern, dass sie dann wo anders kaufen weil es einfacher ist. Unter dem Strich ein perfektes System um die falschen strategischen Entscheidungen zu treffen.
Es geht auch anders
Du wirst nun sagen, ..."Ja, aber es gibt doch auch Vertreter die verstanden haben worum es geht." Sicher, die gibt es, nur sind sie in der verschwindend kleinen Minderheit. Zum Glück durfte ich vor ein paar Wochen wieder so einen Kunden treffen.
Auf die Frage warum sie denn das E-Commerce Projekt machen wollen war die Antwort: "Dass es uns auch die nächsten 30 Jahre geben wird."
Da hat jemand die Veränderungen seiner Kunden analysiert und den Schluss daraus gezogen, dass neue Geschäftsmodelle unabdingbar für den zukünftigen Erfolg des Unternehmens sein werden. Dementsprechend war dann auch die Diskussion um Budgets zweitranging, viel mehr interessiert diesen Kunden was genau wir dazu beitragen können E-Commerce wirklich erfolgreich zu machen.